Karl Veitschegger (2022)

 

Reliquien rund um Weihnachten


Foto: Catholic News Service/Debbie Hill

 

In allen Religionen gibt es Reliquien. Auch im Christentum. Es handelt sich dabei wörtlich übersetzt um „Überbleibsel“ (lat. reliquiae) von „heiligen“ Personen: Knochen, Haare, Kleider, Schriftstücke, Dinge aller Art. Auch Kurioses und Skurriles ist darunter. Reliquien sind für den christlichen Glauben nicht notwendig; „Luxus“ nennt sie der katholische Theologe Thomas Söding. Erinnerungsstücke und Andenken, die man nicht unbedingt haben muss. Sie dennoch in Ehren zu halten, kann die Aufmerksamkeit für Personen und Ereignisse stärken, auf die sie hinweisen. Angreifbares wird so zur Brücke zum Unsichtbaren. Für diesen Hinweischarakter ist letztlich nicht entscheidend, ob Reliquien „echt“ sind, auch wenn die offizielle Kirche spätestens seit der Aufklärung darauf Wert legt. Manchmal ist auch etwas Humor vonnöten: katholisches Augenzwinkern. Ich habe hier eine Auswahl von „Reliquien“ aufgelistet, die sich auf die Geburt Jesu beziehen (vgl. Mt 1–2; Lk 1–2):

 

Der Verlobungsring Marias

Im Dom von Perugia wird der Santo Anello aufbewahrt: ein Ring aus honiggelbem Chalzedon. Ihn soll der hl. Josef der Jungfrau Maria bei ihrer Verlobung angesteckt haben.

 

Der Schleier Marias

In Chartres wird der Schleier der Jungfrau Maria verehrt. Die Reliquie soll ein Geschenk des Kaisers von Byzanz an Kaiser Karl den Großen gewesen sein. Laut Überlieferung trug Maria diesen Schleier während der Verkündigung durch den Engel Gabriel. Da er im Reliquiar eher wie ein Hemd aussah, wurde er vom Volk auch Sancta Camisia (heiliges Hemd) genannt.

 

Stock und Mantel Josefs

Der Stock Josefs und Teile seines Mantels (Pallium S. Iosephi), in welchen er das Jesuskind eingehüllt haben soll, werden in Rom in Santa Cecilia in Trastevere und in Sant’Anastasia am Palatin aufbewahrt. Ein weiters Stück gehört den Unbeschuhten Karmelitern in Antwerpen, wo es zu Weihnachten zur Verehrung gezeigt wird. Fäden aus dem Pallium S. Iosephi findet man in zahlreichen Kirchen, so auch in der Jesuitenkirche in Wien (2. Seitenaltar rechts vom Eingang).

 

Die Geburtsgrotte

Im unteren Bereich der Geburtskirche in Betlehem befinden sich verschiedene Gewölbe, eines davon gilt als die Geburtsgrotte Jesu. Seit dem zweiten Jahrhundert wird sie von Christen und Christinnen Palästinas als heiliger Ort verehrt. Ein 14-zackiger Silberstern am Boden verkündet in lateinischer Sprache: Hic de virgine Maria Jesus Christus natus est Hier wurde von der Jungfrau Maria Jesus Christus geboren.

 

Die Windel Jesu

Einer alten Tradition nach wird die „originale“ Windel Jesu im Aachener Domschatz aufbewahrt. Die rund einen Meter breite Reliquie, ein grober Wollstoff aus dunkelbraunem Kamel- oder Ziegenhaar, soll einst von Konstantinopel als Geschenk für Karl den Großen nach Aachen gebracht worden sein. Sie wird alle sieben Jahre im Rahmen der „Heiligtumsfahrt der Öffentlichkeit gezeigt. 

 

Holz von der Krippe Jesu

Der Jerusalemer Bischof Sophronius übergab im siebten Jahrhundert Papst Theodor I. Holzteile einer Futterkrippe, in die Jesus nach seiner Geburt gelegt worden sein soll. Fünf Brettchen werden in der römischen Basilika Santa Maria Maggiore aufbewahrt. 2019 hat Papst Franziskus ein Stück dieser Reliquie wieder an die Christengemeinschaft in Palästina zurückgegeben, wo es in der katholischen Katharinenkirche neben der Geburtsbasilika in Betlehem verehrt werden kann. Untersuchungen sollen ergeben haben, dass das Holz tatsächlich aus der Zeit Jesu und von einer Baumart aus Palästina stammt.

 

Die Milchgrotte

Die Milchgrotte, von der arabischen Bevölkerung „Grotte der Mutter Maria“ genannt, nicht weit von der Geburtskirche entfernt, gilt als Pilger-Attraktion in Betlehem. Heute wird die Grotte von einer Kirche aus dem 19. Jahrhundert eingeschlossen. Dort soll Maria das Jesuskind vor der Flucht nach Ägypten gestillt haben. Aus den Milchtropfen, die dabei auf den Boden fielen, sollen Boden und Wand der Grotte weiß geworden sein. (Immer wieder wurde marianisches „Milchpulver“ von einheimischen Händlern an gutgläubige Pilgerscharen verkauft.) Die Grotte gilt seit dem vierten Jahrhundert als heiliger Ort. Teile der Grottenwand wurden an verschiedene Kirchen in Europa verschickt. Auch daraus wurde wohl „Marienmilch“ extrahiert.

 

Die Muttermilch Marias

Im Mittelalter waren Ampullen mit der angeblichen Muttermilch Marias ein Renner. Im 12. Jahrhundert zählte man 69 katholische Heiligtümer mit Marienmilch-Reliquien. Kurfürst Friedrich der Weise, der berühmte Beschützer Luthers, soll neben Haaren der Gottesmutter auch solche Muttermilch-Fläschchen in seiner üppigen Reliquiensammlung gehabt haben. Martin Luther seufzte über seine vorreformatorische Zeit: „Ach! Was haben wir der Maria Küsse gegeben! Aber ich mag Marias Brüste und Milch nicht, denn sie hat mich nicht erlöst noch selig gemacht."

 

Die Vorhaut Jesu

Das Lukasevangelium erzählt von der Beschneidung Jesu am achten Tag nach seiner Geburt. Das Sanctum Präputium (die heilige Vorhaut) ist Hinweis auf das Jude-sein Jesu. Eine Legende erzählt, eine alte Frau habe die Vorhaut in Öl eingelegt und so über die Zeiten konserviert. Karl der Große soll die Reliquie dann anlässlich seiner Kaiserkrönung am 25. Dezember 800 in Rom Papst Leo III. geschenkt haben. Woher Karl sie hatte? – Angeblich „von einem Engel“ oder von der Kaiserin Irene von Byzanz. Die Vorhaut Christi wurde zusammen mit anderen Reliquien (z. B. der Nabelschnur Jesu) in der Kapelle Sancta Sanctorum im Lateran aufbewahrt. 1527 soll sie ein deutscher Soldat dort gestohlen und später nach Calcata gebracht haben. Im Mittelalter behaupten übrigens 13 Kirchen, im Besitz der heiligen Vorhaut zu sein. Reformation und Französische Revolution machten vielen dieser Vorhaut-Reliquien ein Ende. Die Vorhaut-Reliquie in Calcata wurde allerdings noch 1856 von einem Bischof als „echt“ anerkannt und bis 1983 bei Prozessionen öffentlich gezeigt. Dann verschwand sie plötzlich unter bisher ungeklärten Umständen.

 

Die Nabelschnur Jesu

Nicht nur im Lateran in Rom, auch an vielen anderen Orten wurden (oft winzige) Teile der Nabelschnur Jesu unter dem Titel Sanctus Umbilicus (Heiliger Nabel) verehrt. Schöne Reliquiare wurden dafür geschaffen. Aufsehen erregte 1717 die Zerstörung des „Heiligen Nabels“ von Châlons-en-Champagne durch Bischof Jean-Baptiste-Louis-Gaston de Noailles, der die Reliquie nach einer Prüfung durch seinen Arzt, der daran kaute (!), für unecht erklärte. Er erhielt dafür noch lange Applaus von Seiten der Aufklärer (darunter auch Voltaire), aber bekam auch den Zorn des Volkes zu spüren.

 

Die Milchzähne Jesu

In verschiedenen Kirchen des Abendlandes wurden Milchzähne Jesu verehrt. Dieser Kult blieb allerdings umstritten. Es gab frommen Protest dagegen, da, so der Einwand, Jesus keine Zähne ausgefallen sein konnte. (Zahnausfall hielten manche Theologen als Folge der Erbsünde.)

 

Die Hirten-Gräber

Die Hirten auf den Feldern vor Betlehem, denen laut Lukasevangelium durch Engel die Geburt des Heilandes verkündet wurde, sollen Isaak, Josef und Jakob geheißen haben. So will es eine Überlieferung. Die drei hatten angeblich den Wunsch, einmal dort begraben zu werden, wo sie von der Botschaft des Himmels getroffen wurden. In einem orthodoxen Kloster in Beit Sahur werden ihre Gräber gezeigt.

 

Der Dreikönigsschrein von Köln

Der kostbare Dreikönigsschrein im Kölner Dom enthält angeblich die sterblichen Überreste jener Sterndeuter aus dem Morgenland, die laut Matthäusevangelium einst dem Jesuskind mit Gold, Weihrauch und Myrrhe ihre Huldigung darbrachten. Im achten Jahrhundert gab man ihnen die Namen Kaspar, Melchior und Balthasar und machte sie zu Königen. 1864 wurden die Reliquien ausgepackt. Sie sind in kostbare Stoffe aus dem zweiten Jahrhundert gehüllt, die aus dem syrischen Raum stammen. Immerhin. Wie kamen diese Reliquien nach Köln?

Rainald von Dassel, Erzbischof von Köln und Vertrauter von Kaiser Friedrich Barbarossa brachte sie 1164 in feierlicher Prozession von Mailand nach Köln. Sie waren ein Geschenk Barbarossas und wurden vorher der besiegten Stadt Mailand durch Raub entrissen. Nach Mailand gelangten die Reliquien einst über den Kaiserhof in Byzanz.

 

Knochen der Unschuldigen Kinder

Das Matthäusevangelium erzählt die Geschichte vom Kindermord zu Betlehem durch König Herodes. Helena (+330), die Mutter Kaiser Konstantins, will 328 in Betlehem Reliquien der ermordeten Knaben gefunden haben. Diese wurden und werden seither an verschiedenen Orten der Welt verehrt. Karl der Große hat Reliquien des hl. Knaben Sicharius – er soll eines der Unschuldigen Kinder gewesen sein – der Abtei von Brantôme geschenkt. Auch im Schweizer Benediktinerinnenkloster Au befinden sich angebliche Knöchelchen der Unschuldigen Kinder, die jährlich am 28. Dezember in sechs Knabenstatuen im Altarraum gezeigt und verehrt werden.

 

Marienbrunnen in Beit Sahur

Im Stadtzentrum von Beit Sahur (nahe Betlehem) befindet sich in einer Kirche die angeblich schon von Isaak, dem Sohn Abrahams, gegrabene Zisterne, aus der Maria noch vor der Flucht nach Ägypten getrunken haben soll.

 

Das war eine Auswahl aus dem großen „Andenkenladen“ der Volksfrömmigkeit. Manches davon mutet heute befremdlich an, vielleicht auch peinlich. Der Theologe Thomas Söding meint dazu: „Die katholische Frömmigkeit ist manchmal etwas peinlich. Das ist die Kehrseite ihrer Anziehungskraft. Ein Christentum nur in den Grenzen des guten Geschmacks gibt es nicht.“ Er hat wohl recht. Und noch einmal: Reliquien gehören nicht zum Wesen des katholischen Glaubens, niemand muss sie verehren, sie sind „Luxus“.

 

Karl Veitschegger, im Advent 2022

 

Bibel zur „heilsamen Wirksamkeit“ von Reliquien:

2 Könige 13,2: Die Gebeine des Elischa.

Apg 19,11f: Die Schweiß- und Taschentücher des Paulus

 

 

Aachener Zeitung: Messias in Windeln! „Wer erwartet denn so was?“

Jesus-Krippen-Reliquie vom Vatikan nach Bethlehem gebracht

Artikel in der „Steirerkrone“ vom 23.12.2023

Reliquienkult um Martin Luther

 

 

Zurück zur Startseite von Karl Veitschegger

Zurück zum Menü „Artikel, Referate, Skizzen ...“

 


Karl Veitschegger © 2022