Karl Veitschegger (2006)

 

Ein Jude deutet das Kreuz

 


 

11. Februar 2004: Im Grazer Landhaus wird in einer festlichen Sitzung den steirischen Landespolitikern das „Sozialwort des Ökumenischen Rates der christlichen Kirchen in Österreich“ vorgestellt. Als Mitglied des Ökumenischen Forums der christlichen Kirchen in der Steiermark nehme ich daran teil und begrüße nach dem Festakt am Buffet den Opernsänger Richard Ames, der als Vertreter der jüdischen Gemeinde zu dieser Veranstaltung gekommen ist. Da wir einander schon von früheren Begegnungen kennen, entspinnt sich ein Gespräch zwischen uns, das schließlich sehr ernst wird und mich noch lange bewegt. Zu Hause angekommen, tippe ich folgende Notiz in meinen PC:

 

„Ich hatte heute ein sehr schönes Gespräch mit Richard Ames. Er ist Kantor der jüdischen Gemeinde in Graz und pflegt mit großem Engagement Kontakte zu christlichen Organisationen und Gemeinden. Er erzählte mir, dass ihm von seinen Glaubensgeschwistern manchmal Vorhaltungen gemacht würden: 'Wie kannst du bei Veranstaltungen in christlichen Kirchen hebräische Psalmen singen, in Kirchen, wo doch ein Kreuz hängt?'

Dann erklärte mir Richard Ames, wie er als Jude das Kreuz deutet: 'Wie steht es im christlichen Testament? Was lehrte der Jude Jesus im Tempel vor seiner Kreuzigung? – Er lehrte das Sch‘ma Jisrael: ,Höre Israel: Der EWIGE ist unser Gott, der EWIGE ist der Einzige! Darum sollst du den EWIGEN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft!’ Und Jesus lehrte auch: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!’ – Die ausgebreiteten Arme des Gekreuzigten zeigen zu den Mitmenschen. Sie wollen die Menschen zusammenführen. Und wo Menschen einander näherkommen, da werden sie auch offen für die Transzendenz, offen für den EWIGEN.'“

 

Diese Sicht des Kreuzes, so sagt mir Richard Ames, ermögliche es ihm, dem gläubigen Juden, auch in Kirchen und christlich geprägten Räumen seine Psalmen zu singen. Es ist mein letztes Gespräch mit ihm. Am 9. März 2005 stirbt er in Graz. Einige Tage später folge ich mit vielen Trauernden, darunter auch einigen katholischen und evangelischen Geistlichen, seinem Sarg. Dankbar für vieles, besonders aber auch für seine Worte über den Gekreuzigten.

Toda raba! - Vielen Dank, Richard Ames!

 

Karl Veitschegger (2006)

 

 

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