Ein Jude deutet das Kreuz 11. Februar 2004: Im Grazer Landhaus wird in
einer festlichen Sitzung den steirischen Landespolitikern das „Sozialwort des
Ökumenischen Rates der christlichen Kirchen in Österreich“ vorgestellt. Als
Mitglied des Ökumenischen Forums der christlichen Kirchen in der Steiermark
nehme ich daran teil und begrüße nach dem Festakt am Buffet den Opernsänger
Richard Ames, der als Vertreter der jüdischen Gemeinde zu dieser
Veranstaltung gekommen ist. Da wir einander schon von früheren Begegnungen
kennen, entspinnt sich ein Gespräch zwischen uns, das schließlich sehr ernst
wird und mich noch lange bewegt. Zu Hause angekommen, tippe ich folgende
Notiz in meinen PC: „Ich hatte heute ein sehr
schönes Gespräch mit Richard Ames. Er ist Kantor der jüdischen Gemeinde in
Graz und pflegt mit großem Engagement Kontakte zu christlichen Organisationen
und Gemeinden. Er erzählte mir, dass ihm von seinen Glaubensgeschwistern
manchmal Vorhaltungen gemacht würden: 'Wie kannst du bei Veranstaltungen in
christlichen Kirchen hebräische Psalmen singen, in Kirchen, wo doch ein Kreuz
hängt?' Dann erklärte mir Richard
Ames, wie er als Jude das Kreuz deutet: 'Wie steht es im christlichen
Testament? Was lehrte der Jude Jesus im Tempel vor seiner Kreuzigung? – Er
lehrte das Sch‘ma Jisrael: ,Höre Israel: Der EWIGE
ist unser Gott, der EWIGE ist der Einzige! Darum sollst du den EWIGEN, deinen
Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft!’ Und
Jesus lehrte auch: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!’ – Die
ausgebreiteten Arme des Gekreuzigten zeigen zu den Mitmenschen. Sie wollen
die Menschen zusammenführen. Und wo Menschen einander näherkommen, da werden
sie auch offen für die Transzendenz, offen für den EWIGEN.'“ Diese Sicht des Kreuzes, so sagt mir Richard Ames, ermögliche es ihm, dem gläubigen Juden, auch in
Kirchen und christlich geprägten Räumen seine Psalmen zu singen. Es ist mein
letztes Gespräch mit ihm. Am 9. März 2005 stirbt er in Graz. Einige Tage
später folge ich mit vielen Trauernden, darunter auch einigen katholischen
und evangelischen Geistlichen, seinem Sarg. Dankbar für vieles, besonders
aber auch für seine Worte über den Gekreuzigten. Toda raba! - Vielen Dank,
Richard Ames! Zurück
zur
Startseite von Karl Veitschegger Zurück
zum Menü „Artikel, Referate, Skizzen
...“
Karl Veitschegger © 2006 |