Karl Veitschegger (2002)

 

Weil wir Gott brauchen“

 

Gedanken zum Motto des 350-Jahre-Jubiläums der Grazer Grabenkirche. Beitrag für „Neues am Graben“

 


 

„In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ (Apostelgeschichte 17,28)

 

 

Gottlosigkeit – ein Flop

Noch vor 25 Jahren behaupteten Sozialwissenschaftler, die Religion verliere in der modernen Welt ihren Platz. Sogar Theologen und Theologinnen sprachen voreilig vom „Tod Gottes“. Heute wissen wir: Die These vom Verschwinden der Religion war ein Flop. Religion boomt schon längst wieder – in Nord- und Südamerika genauso wie in Asien oder Afrika. Kirchen und Moscheen schießen wie Pilze aus dem Boden, Popstars und Sportgrößen sprechen offen von ihrer „Beziehung zu Gott“. Nur Europa scheint ein Sonderfall zu sein. Aber auch hier, wo die traditionelle Religion schmerzhafte Einbrüche erleidet, bezeichnen sich Menschen wieder häufiger als „spirituell“, auch wenn sie abwehrend hinzufügen: „Aber ich gehe nicht in die Kirche“.

 

Urfragen des Menschen

Was macht Religion so unausrottbar?

Es gehört wohl zur Würde des Menschen, dass er sich eines Tages auch jenen entscheidenden Fragen stellt, die ihm die Wissenschaft nie beantworten kann: Wozu bin ich auf der Welt? Welchen Sinn hat mein Leben? Was bringt der Tod?

Die Religionen suchen die Antwort auf diese Fragen seit jeher in einer (göttlichen) Wirklichkeit, die unsere erforschbare Welt unendlich übersteigt, sie aber zugleich umfängt und durchwirkt.

 

Sinnvoll leben, lieben, sterben

Christinnen und Christen berufen sich auf Erfahrungen, die Menschen seit 2000 Jahren mit Jesus von Nazaret machen: In ihm – so bekennt christlicher Glaube – hat Gott den Menschen alles geschenkt, was sie brauchen, um sinnvoll leben, sinnvoll lieben und sinnvoll sterben zu können. Wer Jesus nachfolgt und sich Gott anvertraut, erfährt weise und liebevolle Führung in seinem Leben, findet auch in schwierigen Situationen Halt und Orientierung, kann lernen, sich selbst und andere in Liebe und Geduld anzunehmen. Von einem weisen Mönch stammt das Wort: „Gott ist das, was dir fehlt, wenn du alles hast. Und das, was du hast, wenn dir alles fehlt“. Ein Wort, das Nachdenklichkeit verdient. Gott, wie ihn Jesus verkündet, ist nicht nur eine Idee oder ein Gefühl in uns, sondern eine Wirklichkeit, die wirklicher ist als wir selbst, wirklicher als Krebs, Atombombe, Depression und Tod. Gott ist ein liebendes Du, das uns auch dann noch hält, wenn uns unsere Sinne und Kräfte unwiederbringlich verlassen. Diese kühne Botschaft der Hoffnung feiern Christinnen und Christen jedes Mal, wenn sie in ihren Kirchen zusammenkommen.

 

Gute Erfahrungen mit Gott

Diese Hoffnung war 1652 auch der Grund für den Bau der Grabenkirche. Seither ist sie ein festlicher Raum, in dem Gläubige gemeinsam auf Gott hören und seine Gegenwart feiern. Eine Lehrwerkstätte Gottes, in der Menschen die Kunst der Geschwisterlichkeit lernen. Ein Ort der Stille, an dem Betende sich Gott besonders nahe wissen. Eine geistliche Mitte, von der Kranken und Sterbenden jenes Brot gebracht wird, das allein den Hunger des Menschenherzens stillen kann. 350 Jahre Grabenkirche heißt: 350 Jahre Sehnsucht nach Gott. Heißt aber auch: 350 Jahre gute Erfahrungen mit Gott! Das macht nachdenklich – und ermutigt, Gott auch in Zukunft auf der Spur zu bleiben.

 

Karl Veitschegger im August 2002

 

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