Karl Veitschegger (März 2014)

 

Wovon der Papst träumt – Franziskus und die Freude des Glaubens


 

Impulse für den Diözesanrat der Diözese Graz-Seckau aus dem programmatischen Schreiben von Papst Franziskus Evangelii Gaudium, Schloss Seggau, 7. März 2014

 

„Ich bin fest überzeugt: Wir stehen in der Kirche am Beginn einer neuen Ära. Ähnlich wie vor 50 Jahren, als Papst Johannes XXIII. die Kirchenfenster öffnen ließ, um frische Luft hereinzulassen. Heute will Franziskus die Kirche in die Richtung führen, in die er selbst vom Heiligen Geist getrieben wird: näher bei den Menschen, nicht über ihnen thronend, sondern in ihnen lebendig“. So kommentiert  der honduranische Kardinal Óscar Rodríguez Maradiaga (Kölner Stadtanzeiger, 20.1.2014) das Neue, das mit Papst Franziskus allgemein spürbar geworden ist: ein beginnender kirchlicher Klimawandel, den die meisten katholischen Christen und Christinnen hoffnungsvoll begrüßen, manche aber auch skeptisch abwartend oder nur sehr irritiert zur Kenntnis nehmen.

 

„Was will dieser Papst? Was hat er vor?“, fragen viele. Mit seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium [EG] hat er uns offensichtlich eine Art Regierungserklärung gegeben. Hören wir ihn dazu selbst:

„Ich weiß sehr wohl, dass heute die [kirchlichen] Dokumente nicht dasselbe Interesse wecken wie zu anderen Zeiten und schnell vergessen werden. Trotzdem betone ich, dass das, was ich hier zu sagen beabsichtige, eine programmatische Bedeutung hat und wichtige Konsequenzen beinhaltet. Ich hoffe, dass alle Gemeinschaften [in der Kirche] dafür sorgen, die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um auf dem Weg einer pastoralen und missionarischen Neuausrichtung voranzuschreiten, der die Dinge nicht so belassen darf wie sie sind. Jetzt dient uns nicht eine reine Verwaltungsarbeit. Versetzen wir uns in allen Regionen der Erde in einen Zustand permanenter Mission.“ (EG 25)

 

Ich entnehme daraus: Die Dinge dürfen nicht so bleiben, wie sie sind, sondern es muss Reformen geben! Diese sollen von allen Gemeinschaften in der Kirche mitgetragen werden. Und zwar geht es um Reformen, die der Mission der Kirche dienen: Mission hier ganz im ursprünglichen Sinn von Sendung. Kirche ist nicht für sich selbst da, sondern hat von Christus die Sendung und den Auftrag, für die Menschen der jeweiligen Zeit hilfreich da zu sein. Daher ist – so der Papst wörtlich – „das missionarische Handeln das Paradigma für alles Wirken der Kirche“ (15). Wir müssen „alles unter einen missionarischen Gesichtspunkt stellen“(34). Kurz: Wir müssen wissen, für wen wir da sind, und dann schauen, wie wir dieses Dasein für andere am besten hinbekommen.

 

Es ist also wichtig, wenn Sie als Mitglieder des DR sich mit diesem Papstschreiben ernsthaft auseinandersetzen. Mein Referat will sie zur Lektüre des Dokumentes anregen, Ihnen diese aber nicht ersparen. Ich biete Ihnen keine Zusammenfassung oder Rezension des Schreibens, sondern habe für Sie bewusst fünf Anliegen aus dem Dokument ausgewählt:

 

1.     Die Freude des Christseins drängt zur Evangelisierung

2.     Evangelisierung verlangt Mut zu Reformen

3.     Besondere Versuchungen der in der Seelsorge Tätigen

4.     Jede/r Getaufte ist Subjekt der Evangelisierung

5.     An der Seite der Armen für Liebe und Gerechtigkeit

 

 

1. Die Freude des Christseins drängt zur Evangelisierung

 

„Die Freude des Evangeliums erfüllt das Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen.“(EG 1) Mit diesen Worten beginnt Franziskus sein Schreiben. Und er spricht eine Einladung aus: „Ich lade jeden Christen ein, gleich an welchem Ort und in welcher Lage er sich befindet, noch heute seine persönliche Begegnung mit Jesus Christus zu erneuern oder zumindest den Entschluss zu fassen, sich von ihm finden zu lassen, ihn jeden Tag ohne Unterlass zu suchen.“ (EG 3)  In Jesus Christus schenkt Gott den Menschen seine unendliche und unerschütterliche Liebe. Diese ist größer als jede Not, größer als jede menschliche Schuld, ja stärker als der Tod. Sie ist barmherzig und verzeiht. Sie kann von jener bitteren Einsamkeit und Traurigkeit befreien, in die Selbstbezogenheit und übertriebener Individualismus uns einschließen. Sie stiftet Gemeinschaft und schenkt  tiefe Freude. Diese Erfahrung der Liebe Gottes ist der Kern des Evangeliums. Der Papst wörtlich: „Dort liegt die Quelle der Evangelisierung. Wenn nämlich jemand diese Liebe angenommen hat, die ihm den Sinn des Lebens zurückgibt, wie kann er dann den Wunsch zurückhalten, sie den anderen mitzuteilen?“ (EG 8) Wer die tiefe Freude des Christseins erfahren hat, will diese Erfahrung weitergeben, wie Paulus sagt: „Die Liebe Christi drängt uns.“ (2 Kor 5,14) Und der Papst zieht daraus den Schluss: „Alle haben das Recht, das Evangelium zu empfangen. Die Christen haben die Pflicht, es ausnahmslos allen zu verkünden, […] wie jemand, der eine Freude teilt, einen schönen Horizont aufzeigt, ein erstrebenswertes Festmahl anbietet.“ (EG 14)

 

Aber erscheint uns und unseren Zeitgenossen diese Botschaft nicht oft zu alt und verbraucht? – Nein, sagt der Papst und ermutigt die ganze Kirche, sich auf eine „neue Etappe der Evangelisierung“ (EG 1) einzulassen und sich dabei neu zur Quelle zu begeben: „Jesus Christus kann auch die langweiligen Schablonen durchbrechen, in denen wir uns anmaßen, ihn gefangen zu halten, und überrascht uns mit seiner beständigen göttlichen Kreativität. Jedes Mal, wenn wir versuchen, zur Quelle zurückzukehren und die ursprüngliche Frische des Evangeliums wiederzugewinnen, tauchen neue Wege, kreative Methoden, andere Ausdrucksformen, aussagekräftigere Zeichen und Worte reich an neuer Bedeutung für die Welt von heute auf.“ (EG 11)

 

·        Die Freude am Glauben zu erneuern, ist auch der erste Zielsatz unseres Diözesanen Weges. Wo erfahren wir die Freude des Christseins? Wo erfahren sie Menschen, die Christus noch nicht oder nicht mehr kennen? Wie gelingt es, diese Freude weiterzugeben? Was behindert oder fördert uns in der Evangelisierung? Wo stehen wir selbst, unsere Gemeinden und Einrichtungen der Frische des Evangeliums im Weg?

 

 

2. Evangelisierung verlangt Mut zu Reformen

 

Auf die Frage, wovon der Papst träumt, gibt er selbst die Antwort: „Ich träume von einer missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient. Die Reform der Strukturen, die für die pastorale Neuausrichtung erforderlich ist, kann nur in diesem Sinn verstanden werden: dafür zu sorgen, dass sie alle missionarischer werden, dass […] sie die in der Seelsorge Tätigen in eine ständige Haltung des ‚Aufbruchs‘ versetzt und so die positive Antwort all derer begünstigt, denen Jesus seine Freundschaft anbietet.“ (EG 27)

Der Papst träumt also von der Fähigkeit, alles Wandelbare in der Kirche zu verwandeln und zu reformieren, wenn dadurch das Evangelium besser zu den Menschen kommen kann. Reformen sind notwendig, ja unaufschiebbar, aber ihr Ziel ist nicht ein Facelifting der Kirche, sondern eine möglichst unbelastete Evangelisierung.

 

Das gilt für Pfarren (EG 28), die Franziskus besonders wichtig sind, für kirchliche Einrichtungen, Bewegungen und Gemeinschaften (EG 29), für  die Diözesen (EG 30) und den Regierungsstil der Bischöfe (EG 31) und auch für den Papst. „Auch das Papsttum und die zentralen Strukturen der Universalkirche haben es nötig, dem Aufruf zu einer pastoralen Neuausrichtung zu folgen […]. Eine übertriebene Zentralisierung kompliziert das Leben der Kirche und ihre missionarische Dynamik, anstatt ihr zu helfen.“ (EG 32)

 

Alle sind aufgefordert, „das bequeme pastorale Kriterium des ‚Es wurde immer so gemacht‘ aufzugeben“ und „großherzig und mutig die Anregungen dieses Dokuments aufzugreifen, ohne Beschränkungen und Ängste.“ (EG 33). Alleingänge ohne Rücksicht auf die Gemeinschaft der Kirche sind freilich zu vermeiden.

 

Da für viele Menschen die Menge kirchlicher Lehren, Bräuche und Vorschriften nicht mehr zu durchblicken ist, verlangt die Evangelisierung eine Konzentration auf das Wesentliche. Der Kern der christlichen Botschaft ist die Schönheit der Liebe Gottes, „die sich im gestorbenen und auferstandenen Jesus Christus offenbart hat“ (EG 36). Alles andere leitet sich davon ab. Nicht alle Glaubensaussagen sind gleich wichtig, sondern im Sinne des  Konzils ist eine „Hierarchie der Wahrheiten“ zu beachten. Das gilt auch für die Morallehre. Nach Thomas von Aquin ist „in Bezug auf das äußere Handeln die Barmherzigkeit die größte aller Tugenden“ (EG 37), Das wiederum muss – so der Papst – pastorale Konsequenzen haben!

 

Die Kirche kann auch zur Erkenntnis gelangen, dass manche ihrer ehrwürdigen Bräuche, die zwar schön, aber nicht direkt mit dem Kern des Evangeliums verbunden sind, heute nicht mehr der Evangelisierung dienen. Das trifft auch auf manche kirchliche Normen und Vorschriften zu. „Haben wir keine Angst, sie zu revidieren!“ (EG 43)

 

Der Papst erinnert an Thomas von Aquin, nach dessen Lehre nur „ganz wenige“ Vorschriften von Christus und den Apostel stammen und die später hinzugefügten nur „mit Maß einzufordern“ sind, weil sich Religion sonst in „Sklaverei“ verwandeln könnte. „Diese Warnung besitzt erschreckende Aktualität“ (EG 43), meint der Papst und erklärt sie zu einem wichtigen Kriterium im kommenden Reformprozess.

 

Und er fordert Nachsicht: Wenn einem Menschen das moralisch Vollkommene nicht möglich ist, soll man aus lauter Rigorismus das ihm mögliche Gute, das er tut, nicht geringachten. „Ein kleiner Schritt inmitten großer menschlicher Begrenzungen kann Gott wohlgefälliger sein" als das äußerlich korrekte Leben dessen, der seine Tage verbringt, ohne auf nennenswerte Schwierigkeiten zu stoßen.“ (EG 44)

 

Auch was den Zugang zu den Sakramenten betrifft, soll die Kirche eine großzügige Mutter sein. „Die Eucharistie ist […] nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen. Diese Überzeugungen haben auch pastorale Konsequenzen, und wir sind berufen, sie mit Besonnenheit und Wagemut in Betracht zu ziehen. Häufig verhalten wir uns wie Kontrolleure der Gnade und nicht wie ihre Förderer. Doch die Kirche ist keine Zollstation, sie ist das Vaterhaus, wo Platz ist für jeden mit seinem mühevollen Leben.“ (EG 47) Besonders gilt das für die Armen, die die „ersten Adressaten des Evangeliums“ (EG 48) sind.

 

„Brechen wir auf, gehen wir hinaus, um allen das Leben Jesu Christi anzubieten! […] Mir ist eine ‚verbeulte‘ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit […] krank ist. Ich will keine Kirche, die darum besorgt ist, der Mittelpunkt zu sein […]. Wenn uns etwas in heilige Sorge versetzen und unser Gewissen beunruhigen soll, dann ist es die Tatsache, dass so viele unserer Brüder und Schwestern ohne die Kraft, das Licht und den Trost der Freundschaft mit Jesus Christus leben, ohne eine Glaubensgemeinschaft, die sie aufnimmt, ohne einen Horizont von Sinn und Leben.“ (EG 49) Die Furcht, Fehler zu machen, muss geringer sein als die Furcht, „uns einzuschließen in die Strukturen, die uns einen falschen Schutz geben, in die Normen, die uns in unnachsichtige Richter verwandeln, in die Gewohnheiten, in denen wir uns ruhig fühlen, während draußen eine hungrige Menschenmenge wartet und Jesus uns pausenlos wiederholt: ‚Gebt ihr ihnen zu essen!‘“ (EG 49).

 

·        Was bedeutet das für unseren „Diözesanen Weg“, dessen zweiter Zielsatz lautet: Die Seelsorge in der Diözese neu ausrichten? Wie muss eine Seelsorge aussehen, die das Anliegen des Papstes beherzigt?

 

 

3. Besondere Versuchungen der in der Seelsorge Tätigen

 

Sehr deutlich wird Franziskus, wenn er auf die „Versuchungen der in der Seelsorge Tätigen“ zu sprechen kommt. Ich sehe in diesen Passagen von EG (vor allem 76 - 101) einen guten Gewissensspiegel für uns alle, die wir in der Kirche mitarbeiten, für Priester und Laien.

 

„Heute kann man bei vielen in der Seelsorge Tätigen […] eine übertriebene Sorge um die persönlichen Räume der Selbständigkeit und der Entspannung feststellen […].“ (EG 79) Sie beten zwar und finden in religiösen Dingen einen gewissen Trost, aber beziehen daraus nicht mehr die Kraft für „die Begegnung mit den anderen, den Einsatz in der Welt und die Leidenschaft für die Evangelisierung“(EG78). Manche sind nicht glücklich über das, was sie sind und was sie tun, und das schwächt ihren Einsatz. Statt das Leben gerne für die anderen einzusetzen, verfallen sie einem „praktischen Relativismus“, der darin besteht, im Alltag „so zu handeln, als gäbe es Gott nicht, so zu entscheiden, als gäbe es die Armen nicht, so zu träumen, als gäbe es die anderen nicht, so zu arbeiten, als gäbe es die nicht, die die Verkündigung noch nicht empfangen haben“ (EG 80). Auch Leute von anscheinend solider religiöser Überzeugung klammern sich an wirtschaftliche Sicherheiten und Machtbereiche. Besonders schlimm ist der „graue Pragmatismus des kirchlichen Alltags“, wo nach außen hin alles funktioniert, aber der Glaube verbraucht und schäbig wird.

 

Der Papst nennt mehrere Ursachen für Trägheit, Müdigkeit und Pessimismus in der Seelsorge. Ihre Überwindung sieht er darin, wieder offen zu werden für die Freude des Evangeliums. Und diese Freude wird in uns immer dann neu entfacht und gestärkt, wenn wir uns wieder konkret Mitmenschen zuwenden, vor allem den Armen.

 

Franziskus ist spürbar in seinem Element, wenn er zu einer Mystik des Miteinanders ermutigt, „die darin liegt, zusammen zu leben, uns unter die anderen zu mischen, einander zu begegnen, uns in den Armen zu halten, uns anzulehnen, teilzuhaben an dieser etwas chaotischen Menge, die sich in eine wahre Erfahrung von Brüderlichkeit verwandeln kann, in eine solidarische Karawane, in eine heilige Wallfahrt […]. Aus sich selbst herausgehen, um sich mit den anderen zusammenzuschließen, tut gut.“ (EG 87)

 

Wer sich hingegen von den anderen abkapselt, verzichtet auf den „Realismus der sozialen Dimension des Evangeliums“. Er sucht einen „Christus ohne Leib“ (EG 88)! Viele streben heute nach einer Spiritualität, der die ganz reale Zuwendung zum Nächsten fehlt.  „Unterdessen lädt das Evangelium uns immer ein, das Risiko der Begegnung mit dem Angesicht des anderen einzugehen, mit seiner physischen Gegenwart, die uns anfragt, mit seinem Schmerz und seinen Bitten, mit seiner ansteckenden Freude in einem ständigen unmittelbar physischen Kontakt. Der echte Glaube an den Mensch gewordenen Sohn Gottes ist untrennbar von der Selbsthingabe, von der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, vom Dienst, von der Versöhnung mit dem Leib der anderen. Der Sohn Gottes hat uns in seiner Inkarnation zur Revolution der zärtlichen Liebe eingeladen.“ (EG 88)

 

Dann warnt der Papst vor dem, was er „spirituelle Weltlichkeit“ nennt. Manches, was sich in der Kirche breitmacht, sieht religiös und wichtig aus, ist aber im Innern doch nur weltlich und gottlos: „Bei einigen ist eine ostentative Pflege der Liturgie, der Lehre und des Ansehens der Kirche festzustellen, doch ohne dass ihnen […] die konkreten Erfordernisse der Geschichte Sorgen bereiten. Auf diese Weise verwandelt sich das Leben der Kirche in ein Museumsstück oder in ein Eigentum einiger weniger. Bei anderen verbirgt sich dieselbe spirituelle Weltlichkeit hinter dem Reiz, gesellschaftliche oder politische Errungenschaften vorweisen zu können, oder in einer Ruhmsucht, die mit dem Management praktischer Angelegenheiten verbunden ist […]. Sie kann auch ihren Ausdruck in verschiedenen Weisen finden, sich selbst davon zu überzeugen, dass man in ein intensives Gesellschaftsleben eingespannt ist, angefüllt mit Reisen, Versammlungen, Abendessen und Empfängen. Oder sie entfaltet sich in einem Manager-Funktionalismus, [...] wo der hauptsächliche Nutznießer nicht das Volk Gottes ist, sondern eher die Kirche als Organisation. In allen Fällen fehlt dieser Mentalität das Siegel des Mensch gewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Christus, sie schließt sich in Elitegruppen ein und macht sich nicht wirklich auf die Suche nach den Fernstehenden, noch nach den unermesslichen, nach Christus dürstenden Menschenmassen. Da ist kein Eifer mehr für das Evangelium, sondern der unechte Genuss einer egozentrischen Selbstgefälligkeit.“ (EG 95)

 

„Die spirituelle Weltlichkeit führt einige Christen dazu, im Krieg mit anderen Christen zu sein, die sich ihrem Streben nach Macht, Ansehen, Vergnügen oder wirtschaftlicher Sicherheit in den Weg stellen […]. Mehr als zur gesamten Kirche mit ihrer reichen Vielfalt, gehören sie zu dieser oder jener Gruppe, die sich als etwas Anderes oder etwas Besonderes empfindet.“ (EG 98)

 

 

4. Jede/r Getaufte ist Subjekt der Evangelisierung

 

Franziskus zeichnet ein sehr warmherziges Bild von Kirche: „Kirche sein bedeutet Volk Gottes sein, in Übereinstimmung mit dem großen Plan der Liebe des Vaters. Das schließt ein, das Ferment Gottes inmitten der Menschheit zu sein. Es bedeutet, das Heil Gottes […] hineinzutragen in diese unsere Welt […]. Die Kirche muss der Ort der ungeschuldeten Barmherzigkeit sein, wo alle sich aufgenommen und geliebt fühlen können, wo sie Verzeihung erfahren und sich ermutigt fühlen können, gemäß dem guten Leben des Evangeliums zu leben.“ (EG 114)

 

Der Papst betont, dass die Mehrheit dieses Gottesvolkes Laien sind: „Die Laien sind schlicht die riesige Mehrheit des Gottesvolkes. In ihrem Dienst steht eine Minderheit: die geweihten Amtsträger.“ (EG 102) „Das Amtspriestertum ist eines der Mittel, das Jesus zum Dienst an seinem Volk einsetzt, doch die große Würde kommt von der Taufe, die allen zugänglich ist.“ (104) Das sagt der Papst gerade auch im Hinblick auf die Frauen, denen das Amtspriestertum nicht offensteht: „Ich sehe mit Freude, wie viele Frauen pastorale Verantwortungen gemeinsam mit den Priestern ausüben, ihren Beitrag zur Begleitung von Einzelnen, von Familien oder Gruppen leisten und neue Anstöße zur theologischen Reflexion geben. Doch müssen die Räume für eine wirksamere weibliche Gegenwart in der Kirche noch erweitert werden.“ Auch dort, „wo die wichtigen Entscheidungen getroffen werden“ (EG 103)

 

Die Laien, Männer und Frauen, sind sich ihrer Verantwortung, die aus Taufe und Firmung hervorgeht, nicht immer genügend bewusst. „In einigen Fällen, weil sie nicht ausgebildet sind, um wichtige Verantwortungen zu übernehmen, in anderen Fällen, weil sie in ihren Teilkirchen aufgrund eines übertriebenen Klerikalismus, der sie nicht in die Entscheidungen einbezieht, keinen Raum gefunden haben, um sich ausdrücken und handeln zu können.“ (EG 102)

 

Franziskus ruft jede Getaufte und jeden Getauften auf, sich an der Evangelisierung zu beteiligen. Er tut dies mit Worten, die schon irritieren und sogar Widerstand auslösen können. Aber lassen wir uns zuerst einmal von ihnen betreffen:

 

Jeder Getaufte ist, unabhängig von seiner Funktion in der Kirche und dem Bildungsniveau seines Glaubens, aktiver Träger der Evangelisierung, und es wäre unangemessen, an einen Evangelisierungsplan zu denken, der von qualifizierten Mitarbeitern umgesetzt würde, wobei der Rest des gläubigen Volkes nur Empfänger ihres Handelns wäre. Die neue Evangelisierung muss ein neues Verständnis der tragenden Rolle eines jeden Getauften einschließen. Diese Überzeugung wird zu einem unmittelbaren Aufruf an jeden Christen, dass niemand von seinem Einsatz in der Evangelisierung ablasse; wenn einer nämlich wirklich die […] Liebe Gottes erfahren hat, braucht er nicht viel Vorbereitungszeit, um sich aufzumachen und sie zu verkündigen; er kann nicht darauf warten, dass ihm viele Lektionen erteilt oder lange Anweisungen gegeben werden. Jeder Christ ist in dem Maß Missionar, in dem er der Liebe Gottes in Jesus Christus begegnet ist […]. Wenn wir nicht überzeugt sind, schauen wir auf die ersten Jünger, die sich unmittelbar, nachdem sie den Blick Jesu kennen gelernt hatten, aufmachten, um ihn voll Freude zu verkünden […] Und wir, worauf warten wir? (EG 120)

 

Als Angehörige einer Bildungsgesellschaft macht uns das stutzig. Vielleicht mit Recht. Aber hören wir dem Papst, der durchaus weiß, dass es auch religiöse Aus- und Weiterbildung geben muss, noch weiter zu:

 

„Gewiss sind wir alle gerufen, als Verkünder des Evangeliums zu wachsen“ und „bemühen uns um eine bessere Ausbildung“, das „bedeutet jedoch nicht, dass wir unterdessen von unserer Aufgabe zu evangelisieren absehen müssen, sondern wir sollen die Weise finden, die der Situation angemessen ist, in der wir uns befinden. In jedem Fall sind wir alle gerufen, den anderen ein klares Zeugnis der heilbringenden Liebe des Herrn zu geben, der uns […] seine Nähe, sein Wort und seine Kraft schenkt und unserem Leben Sinn verleiht.“ Und jetzt kommt ein entscheidender Satz: „Dein Herz weiß, dass das Leben ohne ihn nicht dasselbe ist. Was du entdeckt hast, was dir zu leben hilft und dir Hoffnung gibt, das sollst du den anderen mitteilen. Unsere Unvollkommenheit darf keine Entschuldigung sein […].“ (EG 121)

 

Der Papst gibt auch einige praktische Tipps für diese „informelle Verkündigung“ von Mensch zu Mensch (siehe EG 127).

 

·        Wie können wir diesen wichtigen Impuls zur „Evangelisierung von Mensch zu Mensch“ in geeigneter Weise aufgreifen und fördern?

 

 

5. An der Seite der Armen für Liebe und Gerechtigkeit

 

Dass die christliche Botschaft unverkürzt verkündet wird, war schon immer Sorge der Päpste. Bei Papst Franziskus konzentriert sich diese Sorge auf die soziale Dimension des Evangeliums. Sie darf nicht zu kurz kommen. Sonst wird die Evangelisierung entstellt.

 

„Aus einer Lektüre der Schrift geht […] klar hervor, dass das Angebot des Evangeliums nicht nur in einer persönlichen Beziehung zu Gott besteht. Und unsere Antwort der Liebe dürfte auch nicht als eine bloße Summe kleiner persönlicher Gesten gegenüber irgendeinem Notleidenden verstanden werden; das könnte eine Art ‚Nächstenliebe à la carte‘ sein [...] Das Angebot [des Evangeliums] ist das Reich Gottes […]. In dem Maß, in dem er [Gott] unter uns herrschen kann, wird das Gesellschaftsleben für alle ein Raum der Brüderlichkeit, der Gerechtigkeit, des Friedens und der Würde sein.“ (EG 180). Die Soziallehre der Kirche muss daher die gesamte Gesellschaft im Auge haben und so konkret und konstruktiv sein, dass man sich von ihr betroffen fühlt. (EG 182) Gott will das Glück seiner Kinder nicht nur im Jenseits, sondern auch auf dieser Erde. Er „hat alles erschaffen, ‚damit sie sich daran freuen können‘ (1 Tim 6,17), damit alle sich daran freuen können“(EG 182).

 

„Ein authentischer Glaube […] schließt immer den tiefen Wunsch ein, die Welt zu verändern, Werte zu übermitteln, nach unserer Erdenwanderung etwas Besseres zu hinterlassen. Wir lieben diesen herrlichen Planeten, auf den Gott uns gesetzt hat, und wir lieben die Menschheit, die ihn bewohnt, mit all ihren Dramen und ihren Mühen, mit ihrem Streben und ihren Hoffnungen, mit ihren Werten und ihren Schwächen. Die Erde ist unser gemeinsames Haus, und wir sind alle Brüder.“ (EG183)

 

Unsere besondere Liebe muss dabei den Armen gelten: „Jeder Christ und jede Gemeinschaft ist berufen, Werkzeug Gottes für die Befreiung und die Förderung der Armen zu sein, so dass sie sich vollkommen in die Gesellschaft einfügen können; das setzt voraus, dass wir gefügig sind und aufmerksam, um den Schrei des Armen zu hören und ihm zu Hilfe zu kommen.“ (EG 187)

 

Das Wort Jesu an seine Jünger: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ (Mk 6,37) „beinhaltet sowohl die Mitarbeit, um die strukturellen Ursachen der Armut zu beheben und die ganzheitliche Entwicklung der Armen zu fördern, als auch die einfachsten und täglichen Gesten der Solidarität angesichts des ganz konkreten Elends, dem wir begegnen.“ (EG 188)

 

 „Solidarität“, meint der Papst, muss mehr sein, als gelegentlich eine großherzige Tat zu setzen. Sie erfordert eine „neue Mentalität“, die weiß, dass Eigentum immer mit einer sozialen Verpflichtung verbunden ist und dass die Güter dieser Welt wirklich  für alle bestimmt sind. Solidarität muss „als die Entscheidung gelebt werden, dem Armen das zurückzugeben, was ihm zusteht“ (EG 189). Das gilt lokal und auch global. „An jedem Ort und bei jeder Gelegenheit sind die Christen, ermutigt von ihren Hirten, aufgerufen, den Schrei der Armen zu hören.“ (EG190)

 

„Im Herzen Gottes gibt es einen so bevorzugten Platz für die Armen, dass er selbst ‚arm wurde‘ (2 Kor 8,9).“ (EG 197) Und so muss auch die Kirche ihre „Option für die Armen“ treffen, ja eine „arme Kirche für die Armen“ (EG 198) werden. Die Armen sind ein bevorzugter Ort der Christusbegegnung: „Sie haben uns vieles zu lehren. Sie […] kennen […] dank ihrer eigenen Leiden den leidenden Christus. Es ist nötig, dass wir alle uns von ihnen evangelisieren lassen. Die neue Evangelisierung ist eine Einladung, die heilbringende Kraft ihrer Leben zu erkennen und sie in den Mittelpunkt des Weges der Kirche zu stellen. Wir sind aufgerufen, Christus in ihnen zu entdecken, uns zu Wortführern ihrer Interessen zu machen, aber auch ihre Freunde zu sein, sie anzuhören, sie zu verstehen und die geheimnisvolle Weisheit anzunehmen, die Gott uns durch sie mitteilen will.“ (EG 198)

 

Eine solche Theologie der Armen hat für jede/n von uns Konsequenzen: „Niemand dürfte sagen, dass er sich von den Armen fern hält, weil seine Lebensentscheidungen es mit sich bringen, anderen Aufgaben mehr Achtung zu schenken. Das ist eine in akademischen, unternehmerischen oder beruflichen und sogar kirchlichen Kreisen häufige Entschuldigung. […]. [Aber es] darf sich niemand von der Sorge um die Armen und um die soziale Gerechtigkeit freigestellt fühlen […].“ (EG 202)

 

·        Als Kirche die Gesellschaft mitgestalten, heißt der dritte Zielsatz des „Diözesanen Weges“. Wie reagieren wir als katholische Kirche in der Steiermark und als Einzelne auf den dringlichen sozialen Appell des Papstes?

 

 „Ich fürchte“, sagt der Papst, „dass auch diese Worte nur Gegenstand von Kommentaren ohne praktische Auswirkungen sein werden. Trotzdem vertraue ich auf die Offenheit und die gute Grundeinstellung der Christen, und ich bitte euch, gemeinschaftlich neue Wege zu suchen, um diesen erneuten Vorschlag anzunehmen.“ (EG 202)

 

Karl Veitschegger

 

 

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