Karl Veitschegger (1998)

 

Liebes-, Kern- und Schnupperchristen
Statement zum Thema „Christsein im Alltag" im Diözesanrat von Graz-Seckau

am 6. 6. 1998


 

Sobald wir als überzeugte Christenmenschen das Kirchengebäude oder das Pfarrhaus verlassen, treten wir in jene Öffentlichkeit, wo wir „nicht mehr unter uns sind" . Welche Einstellungen und Erwartungen umgeben uns? Und welchen Herausforderungen müssen wir uns stellen? Als Mitarbeiter im Pastoralamt wurde ich gebeten, etwas dazu zu sagen. Ich will mich auf drei Dinge beschränken:

§  Woran werden wir gemessen?

§  Die Welt ist nicht voller Kirchenfeinde

§  „Pflicht" kommt von „pflegen“

 

1. Woran werden wir gemessen?

Meine Frau hat für die letzte Nummer unseres Pfarrblattes (Pfarre Graz-Graben, 4/1998) die Mutter eines Kindes mit schwerer Behinderung interviewt. Auf die Frage „Was erwarten Sie von der Pfarre?" antwortet sie: „Ich habe gelernt, meine Erwartungen nicht sehr hoch anzusetzen. Wobei ich sagen muss, dass ich mir von Christen eigentlich mehr Nächstenliebe erwarte als von normalen Menschen."

Unsere diözesane Befragung der Kirchenbeitragszahlerinnen und -zahler, von Jänner bis März 1998, bei der sich über 8.000 Personen zu Wort gemeldet haben, ist nicht weniger eindeutig in ihrem Ergebnis. Die Frage „Was heißt für Sie christlich?" beantworteten 76 % mit „Nächstenliebe" oder sinnverwandten Begriffen.

„Nächstenliebe" ist in der breiten Bevölkerung das, was zuerst mit Christentum in Verbindung gebracht wird. Es ist der Maßstab, den man an Christen anlegt, das Kriterium, wie man einen „echten" Christenmenschen erkennt.

Aber nicht nur Meinungsumfragen kommen zu diesem Kriterium. Auch das Evangelium selbst stimmt in diesem Fall – ja auch das gibt es - mit den Meinungsumfragen überein. Im Neuen Testament lesen wir:Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt." (Joh 13,35) Eine große Anforderung an uns! Ich persönlich empfinde sie manchmal auch als Überforderung. (Vor allem dann, wenn man uns von den Zuschauerbänken her zubrüllt: Na, wo ist nun eure Liebe? Zeigt, was ihr könnt!) Ich frage Sie: Wie stellen wir uns diesen Erwartungen? Wie können wir zugleich klarmachen, dass wir nur Jünger, das heißt: Schüler und Schülerinnen, Lehrlinge, sind – und nicht der Meister selbst?

 

2. Die Welt ist nicht voller Kirchenfeinde

Auch überzeugte Christen sind nicht davor gefeit, eine „Vorliebe" für das Skandalöse zu entwickeln: Umstrittene Bischöfe, die Kirchenaustritte, die Ungerechtigkeit der Medien, das Schwinden des Glaubenswissens ... – all das bestimmt unsere Gespräche über die Kirche. Und das ist gut so! Skandale dürfen nicht vertuscht und Probleme müssen benannt werden. Das haben wir in den letzten Jahren alle gelernt. Aber – so frage ich mich immer öfter – wer verpflichtet uns, nur das Unerfreuliche zu sehen?

Am Höhepunkt der „Groer-Krise" im Jahre 1995 erklärten bei einer Umfrage im Auftrage des Nachrichtenmagazins „News"(15/95) 66 % der Österreicherinnen und Österreicher, sie würden trotz der Skandale niemals aus der Kirche austreten. 66 % – das ist eine absolute Mehrheit, von der politische Parteien nicht einmal mehr träumen. Wer in der Kirche hat sich damals die Zeit genommen, sich darüber zu freuen?

Über 80% unserer Kirchenmitglieder gehören zu jenen Menschen, die man oft lieblos als „Taufscheinchristen" abtut. Freilich, sie kommen eher selten in die Kirche, ihr Glaubenswissen ist durchwegs mangelhaft, sie sind geradezu resistent gegen unsere Methoden, sie zu aktiven Gemeindemitgliedern umzufunktionieren, aber sie wollen zur Kirche gehören – und sie zahlen in den meisten Fällen anstandslos ihren Kirchenbeitrag. Sie halten auf ihre Weise der Kirche die Treue. Und an manchen Tagen, bei manchen Anlässen kommen sie näher an die Kirche heran und suchen die Berührung mit dem Heiligen. Jemand hat sie humorvoll als „Schnupperchristen" bezeichnet.

Und was lese ich im Evangelium?

„Da trat eine Frau, die schon zwölf Jahre an Blutungen litt, von hinten an Jesus heran und berührte den Saum seines Gewandes; denn sie sagte sich: Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt." (Mt 9,20f)

Kennen Sie in Ihrer Umgebung nicht auch viele Menschen, die gleichsam nur „von hinten" mit der Kirche Berührung suchen? Sie gehören nicht zur Kerngemeinde, sie berühren nur den „Saum seines Gewandes". Und dieser „Saum seines Gewandes" kann die Fleischweihe sein, das Begräbnis eines Arbeitskollegen, das Opferlicht für das kranke Kind, die Fußwallfahrt des örtlichen Fußballvereins nach Mariazell ...

Wie begegnen wir diesen Menschen? Ist gegenseitiger Respekt zwischen „Schnupperchristen" und Kerngemeinde möglich? Wo und wie könnte eine fruchtbare Allianz für das Reich Gottes aussehen?

 

3. „Pflicht“ kommt von „pflegen“

Vor einiger Zeit hat mich eine Frau angerufen, weil Sie wieder in die Kirche eintreten möchte. Wir führten ein gutes Gespräch. Irgendwie kamen wir auch auf die Sonntagspflicht zu sprechen. Sie meinte: „Ich finde, man soll nur dann in die Kirche gehen, wenn man dazu in richtiger Stimmung ist.“ – Ich sagte dann etwas scherzhaft: „Und was soll geschehen, wenn eines Sonntags der Pfarrer keine Messe hält, weil er nicht dazu gestimmt ist, aber Sie sind gerade an diesem Sonntag in liturgischer Hochstimmung?"

Es muss also wenigstens eine kleine Gruppe geben, die regelmäßig den Gottesdienst feiert. Erst dieser treue Kern macht es möglich, dass auch die, die nur hin und wieder in die Kirche „hineinschnuppern", einen Gottesdienst vorfinden. 14 % der steirischen Katholikinnen und Katholiken feiern regelmäßig die Sonntagsmesse mit. Sie tun dies nicht nur für sich, sondern auch für jene 86 %, die seltener oder nie kommen. Und sie tun es nicht nur, damit eine gute Messgestaltung gelingt.

Ich habe in den letzten Jahren eine tiefere Sicht der Sonntagspflicht gewonnen. Das Wort „Pflicht" kommt von „pflegen", und „pflegen" bedeutet ursprünglich – so habe ich im Kluge nachgelesen – „sorgen für etwas", „verantwortlich sein, einstehen für“ . Für mich heißt deshalb Sonntagspflicht: Ich gehe nicht nur in die Kirche, um meinen persönlichen Glauben zu pflegen, sondern weil ich die regelmäßige Feier der Eucharistie in unserer Pfarre für notwendig halte, weil ich glaube, dass unser Dorf, unsere Stadt - um es in der Sprache der Kirchenväter zu sagen – diese „Leiter zwischen Himmel und Erde“ braucht.

Wer zur Sonntagsmesse geht, tut das stellvertretend für viele andere Menschen, die nicht zur Messe kommen. „Pflicht“ könnte für uns hier heißen: Ohne über ihr Nicht-da-Sein zu urteilen oder die Nase zu rümpfen, nehmen wir unsere abwesenden Mitmenschen und ihre Anliegen geistig in die Eucharistiefeier mit herein. Wir tun einen Dienst für sie, wie sie in vielen anderen Bereichen des täglichen Lebens oder auch in Organisationen (z.B. Feuerwehr, Rotes Kreuz etc.) einen Dienst für uns tun. Wir dürfen füreinander da sein – auch im wahrsten Sinn des Wortes.

Danke.

 

Karl Veitschegger , 6. Juni 1998

 

 

Zurück zur Startseite von Karl Veitschegger

Zurück zum Menü „Meine Artikel, Referate, Skizzen ...“

Karl Veitschegger © 1998/2000