Karl Veitschegger (1992)

 

10 Gebote: Es geht um Freiheit

Skizze für Kurzreferat

zum ORF-Medienverbundprogramm „alles ALLTAG ... zehn an-gebote zum leben" 1992

 


 

Synagogenvorhang mit den Zehn GebotenKein Diktat Gottes

Es gibt verschiedene Kurzfassungen der Zehn Gebote, vor allem zum Zweck der Katechese, also der leichteren Verständlichkeit und Merkbarkeit. Schon in der Bibel selbst finden wir zwei Texte, die (leicht) voneinander abweichen: Exodus 20,2-17 und Deuteronomium 5,6-21. Wir folgen hier dem Exodus-Text. Er dürfte in seiner jetzigen Gestalt – so sagen Bibelwissenschaftler – aus dem 7. Jahrhundert vor Christus stammen.
Die Tatsache, dass es schon in der Bibel zwei verschiedene Fassungen der Zehn Gebote gibt, macht deutlich, dass es der Bibel nicht um Wortwörtlichkeit, sondern um die angegebene Sinnrichtung geht. Inspiration bedeutet nicht wörtliches Diktat Gottes, sondern: Gotteswort in Menschenwort. In der Nummerierung der Gebote folge ich hier der katholischen und lutherischen Zählweise.

 

Ursprüngliche Adressaten

Der Wortlaut der Zehn Gebote (hebräisch: asäret haddebarim = zehn Worte) richtet sich nur an den freien erwachsenen männlichen Israeliten. Frauen, Sklaven, Kinder, Lohnarbeiter, Nichtisraeliten usw. werden nicht direkt angeredet, sondern nur aus dem Blickwinkel des freien Mannes gesehen. Die im Lande Kanaan sesshaft gewordenen freien Söhne Israels sollen gegenseitig ihre Freiheit und Lebensgrundlage respektieren. Besitzanhäufung und Verschuldung bedrohen jedoch die Freiheit. In dieser sozialen Krisensituation muss – im Namen Gottes, dem das Land gehört! – die Existenzgrundlage des Schwächeren vor den Übergriffen des Stärkeren in Schutz genommen werden.

 

Der Schutz der Frauen, Kinder, Sklaven, Nichtisraeliten usw. kommt in anderen Bibelstellen besser zurGeltung (z. B. bei den Propheten). Freilich ist es legitim, ja sogar sinnvoll, auch die Zehn Gebote (von ihrem Grundanliegen her) auf den Schutz aller Menschen hin zu öffnen. Das geschieht dann ja auch im Lauf der jüdischen und christlichen Geschichte. Die Einsicht wächst: Gott liegt nicht nur die Freiheit des freien Israeliten, sondern die Freiheit jedes Menschen am Herzen!

 

 

Exodus 20, 2-17 (Einheitsübersetzung 1980)

 

"Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus

 (1) Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott: Bei denen, die mir feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation; bei denen, die mich lieben und auf meine Gebote achten, erweise ich Tausenden meine Huld.

(2) Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht.

(3) Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt.

(4) Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.

(5) Du sollst nicht morden.

(6) Du sollst nicht die Ehe brechen.

(7) Du sollst nicht stehlen.

(8) Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen.

(9/10) Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgendetwas, das deinem Nächsten gehört."

 

 

Erklärung zu Vorspruch und Weisungen

Vorspruch: Gott stellt sich mit Namen vor: JHWH (vermutlich „Jahwe“ gesprochen; falsche, mittelalterliche Aussprache: Jehova) = Ich bin, der ich bin – Ich bin da. Er ist keine anonyme göttliche Macht, sondern ein persönlicher Gott, ein DU. Er ist der Befreier aus der Knechtschaft und möchte, dass das Volk die gewonnene Freiheit bewahrt. Nicht Zwang, sondern Freiheit ist der Sinn seiner Gebote.

 

Manche Theologen betonen, dass es im Hebräischen kein „Du sollst", sondern nur ein „Du wirst" gibt (z.B. Du wirst nicht stehlen. - Warum nicht? Weil du selbst davon überzeugt bist, nicht weil es dir von außen befohlen worden ist.) Eine grammatikalische Tatsache wird theologisch gedeutet.

 

(1) JHWH allein ist der Garant der Freiheit. Verbot fremder Kulte (z.B. Fruchtbarkeitsgötter – Kindesopfer), da Abfall von Gott in die Sklaverei führt. Auch heute? Moderne Götzen?

 

JHWH ist ein freier Gott, durch kein (Kult-)Bild einzufangen und festzuhalten. Gott selbst kann nicht dargestellt werden. Wir Christen und Christinnen sollten das wieder ernster nehmen. (Jesus, da er auch Mensch ist, und die Heiligen können dargestellt werden.)

 

(2) Verbot jeder Manipulation mit dem Gottesnamen (Zauberei, Meineid, Fluch, falsche Prophetie). Gott will nicht Komplize des Unrechts sein, nicht für trügerische und egoistische Interessen eingespannt werden. Was geschah und geschieht nicht alles „im Namen Gottes"?!

 

(3) Zachor ät-jom haschabbat ...!schabbat" = „aufhören, ruhen", aufhören mit dem Arbeiten (wörtlich: mit dem „ebed" = „wie ein Knecht handeln"). Gott will, dass die Freiheit gelebt, genossen, regelmäßig praktiziert wird. Wer nur „schuftet", wird sich selbst zum Schuft, hört auf, ein freier Mensch zu sein!

 

(4) Kabbed ät abicha we ät immächa ...! Dieses Gebot richtet sich an Erwachsene, nicht an kleine Kinder! „Ehren der alten Eltern" bedeutet im Alten Orient: Kleidung und Nahrung bis zum Tod und ein würdiges Begräbnis. Verlust der Leistungskraft soll nicht Verlust der Freiheit bedeuten. „kabbed" (= ehren) ist das Zeitwort von „kabod" (= Gewicht, Wichtigkeit, Würde; vgl. das lateinische gravitas – Gravität)! – „Mein Sohn, wenn dein Vater alt ist, nimm dich seiner an, und betrübe ihn nicht, solange er lebt. Wenn sein Verstand abnimmt, sieh es ihm nach, und beschäme ihn nicht in deiner Vollkraft!" (Sir 3,12f)

 

(5) Lo tirsach! Das hebräische „rasach" (töten) meint ursprünglich nur ungesetzliches, willkürliches Töten (also nicht Krieg, Todesstrafe usw.). Elementare Lebenssicherung unter Nachbarn! Später hat man dann alles, was sich gegen das menschliche Leben richtet, hier mitgesehen (heute auch: Krieg, Euthanasie, Abtreibung usw.)

 

(6) Lo tinaph! Polygamie war noch legitime Praxis, Frau noch Besitz des Mannes, Scheidung toragemäß. Hier ging es auch nicht primär um ein sexuelles Verbot, sondern um den Schutz der Ehe des Nachbarn: Legitimität seiner Nachkommenschaft, damit auch seine Altersversorgung. Familie war die Lebensgrundlage schlechthin! Diese Basis durfte nicht gefährdet werden! – Unser Ehe-Ideal sieht anders aus …

 

(7) Lo tignob! Besitz war materielle und rechtliche Grundlage für die Freiheit. Wer seinen Besitz verlor, musste in die Sklaverei. Vom hebräischen „ganab" (stehlen) leitet sich übrigens unser „Ganove" her. Aktualisierung des Gebotes: Jede/r muss das erhalten, was er für ein menschenwürdiges Leben braucht (vgl. Thema Entschuldung armer Länder).

 

(8) Es soll verhindert werden, dass der falsche Zeuge bei Gericht seinen Nächsten um die Basis seiner Freiheit bringt (Verlust des Lebens, des Besitzes, des guten Rufes). Will man ein gutes Zusammenleben, darf die Rechtsprechung nicht missbraucht werden!

 

(9/10) Lo tachmod ...! Es geht nicht um bloße „Gedankensünden". Das hebräische Wort für „begehren" (chamad) heißt auch „auf etwas aus sein". Verboten sind alle Machenschaften (auch legale!), den Nächsten um Frau und Besitz zu bringen (z.B. Problem der Schuldsklaverei). Auch heute aktuell?

 

 

Das bleibende Anliegen

Die Zehn Gebote umfassen ursprünglich nicht alle Lebensbereiche des Menschen. Erst später haben Judentum und Christentum versucht, die ganze Moral hier unterzubringen (Beichtspiegel, Katechismus). Das Anliegen der Zehn Gebote, die gottgewollte Freiheit des Menschen, ist aber zeitlos, besser: zu jeder Zeit aktuell und findet sich in anderer (und ergänzender Weise) in der Predigt der Propheten und in der Botschaft Jesu (Gleichnisse, Bergpredigt, „Neues Gebot").

(Viele der oben angerissenen Gedanken verdanke ich dem evangelischen Theologen Frank Crüsemann.)

 

Karl Veitschegger (1992)

 

 

Benedikt XVI. predigte am 8.9.2007 in Mariazell:

„Wenn wir mit Jesus Christus und mit seiner Kirche den Dekalog vom Sinai immer neu lesen und in seine Tiefe eindringen, dann zeigt sich eine große, gültige, bleibende Weisung. Der Dekalog ist zunächst ein Ja zu Gott, zu einem Gott, der uns liebt und uns führt, der uns trägt und uns doch unsere Freiheit lässt, ja, sie erst zur Freiheit macht (die ersten drei Gebote). Er ist ein Ja zur Familie (4. Gebot), ein Ja zum Leben (5. Gebot), ein Ja zu verantwortungsbewusster Liebe (6. Gebot), ein Ja zur Solidarität, sozialen Verantwortung und Gerechtigkeit (7. Gebot), ein Ja zur Wahrheit (8. Gebot) und ein Ja zur Achtung anderer Menschen und dessen, was ihnen gehört (9. und 10. Gebot). Aus der Kraft unserer Freundschaft mit dem lebendigen Gott heraus leben wir dieses vielfältige Ja und tragen es zugleich als Wegweisung in diese unsere Weltstunde hinein."

 

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